+++Brückis News+++


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31.10.2024

Nach der Messe ist vor der Messe!

Die Brückenschreiber Koblenz werden vom 25.01. bis 26.01.2025 ebenfalls bei der Buchmesse Mittelrhein in der Sayner Hütte (Krupp´sche Halle) mit einen Stand vertreten sein. Weitere Informationen folgen.



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Michael Eisenkopf


Michael Eisenkopf, 1957 im Herzen des Ruhrgebiets geboren, hat sein Leben zur Hälfte dort und in Lahnstein verbracht.
Schreibt seit fast vier Jahrzehnten Kurzgeschichten, Aphorismen und Gedichte, schwerpunktmäßig zu politischen, zwischenmenschlichen, satirischen und humorvollen Themen, aber auch Science Fiction- und Fantasy-Texte.

Veröffentlichungen in Anthologien, Literaturzeitschriften, Zeitungen und im Radio.

1. Preis beim Lotto Literaturpreis 2017


Michael bei der Frankfurter Buchmesse!





  

Besondere Zeiten erfordern besondere Phantasien. Deshalb heute ein neuer Brückenschreiber-Text.
Euch hoffentlich entspannte Ostertage ohne Stress und mit viel Erholung!




Das Kämmerchen


 

Hinter einer von innen abgeschlossenen Tür in einem Raum ohne Fenster fand man neben dem Schlüssel die skelettierte Leiche eines Neugeborenen. Heinz Bär, Architekt und neuer Besitzer der alten Villa, hatte dem Raum bei der Besichtigung des Hauses zunächst keine Beachtung geschenkt, ihm hatte die Aussage genügt, es handele sich um einen Vorratsraum, zu dem der Schlüssel noch besorgt werden müsse. Als er nach dem Erwerb der Villa das Schloss austauschen wollte, habe er den furchtbaren Fund gemacht. Die Polizei legte den Fall bald zu den Akten, man vermutete, eine ungewollt Schwangere habe vor Jahrzehnten den Jungen dort zur Welt gebracht oder abgelegt, verwertbare Spuren gab es keine.

 

Heinz Bär hatte sich von seiner Frau Anna getrennt, nachdem sie ihn jahrelang betrogen hatte. Nun lebte er allein in dem heruntergekommenen Haus und begann, es aufwändig zu renovieren. Im Erdgeschoss hatte er sein Büro mit Blick in den Garten eingerichtet und begann anschließend, sich um die Neugestaltung der Wohnräume zu kümmern. Aus verständlichen Gründen widmete er sich dem hinter der Küche verborgenen Raum ganz zuletzt.
Heinz hatte die Angewohnheit, das Haus laut mit klassischer Musik zu fluten, sie inspirierte ihn und versetzte ihn in gute Laune. Lediglich die Nachrichten unterbrachen den Genuss kurz. An einem Dienstagnachmittag, gerade hatte er den letzten Geschäftstermin des Tages hinter sich gebracht, beschloss er spontan, dem bis zuletzt ausgesparten Raum nicht länger auszuweichen, sondern ihn sich einmal in Ruhe anzusehen und zu entscheiden, was sich damit anfangen ließe.
„16 Uhr, HR2-Kultur mit den Nachrichten. Washington. US-Präsident Trump hat in einer Rede vor dem Kongress China mit dem Einsatz von Atomwaffen...“ - Unerträglich, ständig neue Idiotien dieses durchgeknallten Psychopathen zu hören. Heinz öffnete die Tür zum Vorratsraum, eine einsame Glühbirne spendete fahles Licht, was aber für das 6 m²-Kämmerchen völlig ausreichend war. Die Tür fiel zu, noch immer ging es um Trump. Er sah sich um, alte Vorratsregale zierten die Wände, der Raum war prädestiniert dafür, sein Aktenarchiv aufzunehmen. Wunderbar. Heinz öffnete die Tür, hörte aus dem Radio das Zeitzeichen und dann den Nachrichtensprecher: „16 Uhr, HR2-Kultur mit den Nachrichten. Washington. US-Präsident Trump hat in einer Rede vor dem Kongress China mit dem Einsatz...“ Was bitte war das? War das nicht gerade schon...? Er musste sich getäuscht haben.

Am nächsten Tag ging er, wie der Zufall es wollte, wieder zu Beginn der Nachrichten in die Kammer, diesmal bewaffnet mit Staubsauger, Putzwasser und Lappen, um die Regale für Aktenordner zu  säu-bern. „17 Uhr, HR2-Kultur mit den Nachrichten. Berlin. Kanzler Merz gab in einer Pressekonferenz zu, dass er...“. Als er eine Viertelstunde später wieder herauskam, lief Klassik. Kurz darauf hatte er die ersten Akten unter dem Arm, als er vor der Tür des Kämmerchens innehielt. „16 Uhr, HR2-Kultur mit den Nachrichten. Berlin. Bundeskanzler Merz gab in einer Pressekonferenz zu, dass...“. Was ging hier vor? 15 Minuten hatte er in der Kammer verbracht, danach war er nur kurz ins Arbeitszimmer gegangen. Nach vielleicht drei Minuten war er mit den Ordnern zurückgekehrt. Ein leichter Schwindel befiel ihn und wieder kreiste die gleiche Frage durch sein Hirn: Was ging hier vor?
Heinz stellte die Akten ab, drehte sich um, ging ins Kaminzimmer, schenkte sich einen Whisky ein und setzte sich in seinen Ohrensessel. Wie sollte er sich das erklären? Nach ein paar Minuten reifte beim zweiten geistigen Getränk die Erkenntnis, dass es nur mit dem Kämmerchen zu tun haben konnte. Wobei ihn das nicht schlauer sein ließ. Zeit für einen Selbstversuch. Er wartete die 18 Uhr-Nachrichten ab, dann setzte er sich auf den mitgebrachten Stuhl in den Raum, las in H.G. Wells „Die Zeitmaschine“ und wartete exakt dreißig Minuten ab. Als er das Kämmerchen verließ und auf die digitale Wanduhr im Arbeitszimmer schaute, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Es war 8:30 Uhr morgens. Am immer noch gleichen Dienstag. Die Veränderung durch den Aufenthalt im Raum stieg exponentiell an, schnell berechnete er eine Kurve, um mit ihr potentielle Zeitverschiebungen vorherzusagen. Statt den Dienstag ein zweites Mal durchzuarbeiten, entschied er sich, ein Bett in den Raum zu stellen, wenn er jetzt fünf Stunden schliefe, würde er ...
Als der Wecker klingelte, sprang er glockenwach sofort aus dem unbequemen Gästebett. Es war stock-finster im Haus, er hatte sich wohl verrechnet und staunte nicht schlecht, als er in den Videotext seines Fernsehers schaute. Er war um mehr als vier Wochen zurückgereist. Es war Samstag, am Nachmittag würden erst die 2., dann die 1. Bundesliga spielen. Bei fast allen Spielen konnte er sich noch an die exakten Ergebnisse erinnern. Zwei Stunden später fuhr er zur Lottoannahmestelle und füllte gleich mehrere Tippzettel aus. Kombinationstipps, Ergebnistipps. Gesamtgewinn: Eine halbe Million. Erste Skrupel nagten an ihm, als er eine Woche später das Geld bei der Lotto-Gesellschaft in einem Koffer in Empfang nahm.
Zwei Wochen später und drei Jahre früher saß Heinz Bär im Flugzeug nach Miami, Florida, wo er sich auf die Suche nach einem Golfplatz machte, einem ganz bestimmten. In Etappen hatte er über zwei Wochen im Kämmerchen verbracht, wobei er körperlich verjüngt Falten verloren und Lebensenergie gewonnen hatte. Zeitreisende in Science Fiction-Geschichten stiegen unverändert aus ihrer Zeit-maschine, er aber schien in einen Jungbrunnen gefallen zu sein, selbst seinen ausgefallener Zahn konnte sein Zahnarzt dank rechtzeitiger Behandlung retten. Seine Frau überraschte er in flagranti und trennte sich drei Jahre früher von ihr.
Es war die Zeit eines vorübergehenden Rückzugs aus der Politik, er widmete sich trotz einiger demagogischer Auftritte mehr seinen Geschäften, Prostituierten, der Lektüre von Donald Duck-Heften und dem Golfspielen. Zwei verschlafene Security-Leute schaltete er gezielt aus, der orangene alte Sack tat Heinz den Gefallen, wie ein aufgescheuchter Hase zu seinem Golfcar zu rennen, wo es ein Leichtes war, ihn auf dem Fahrersitz präzise und nicht nur am Ohr zu erwischen. Das blieb ihm immerhin erspart. Unerkannt stieg Heinz in seinen Mietwagen, versenkte die Ausrüstung von einer Brücke im Apalachicola River und bestieg drei Stunden später die Maschine Richtung Frankfurt.
In den folgenden Wochen verfolgte er die politischen Verwerfungen, die Trumps Ableben bei den Republikanern hervorrief. Pete Hegseth kristallisierte sich immer mehr als kommender Spitzenkandidat heraus, ein Karrierist, rechtsradikaler Hardliner, und religiöser Fanatiker, der unter Trump Außenminister geworden wäre und rhetorisch umgehend in dessen Fußstapfen trat. Auf seinen Ehebruch angesprochen, sagte er vor einem Ausschuss des Senats, Jesus Christus habe ihm persönlich verziehen, und so sei er mit Gott und der Welt im Reinen und könne das Pentagon leiten, damit Amerika Kriege nicht nur endlos führen müsse, sondern gewinnen möge. Heinz Bär erkannte, dass er nichts gewonnen hatte. M.A.S.A., Make Americe Stupid Again. Drei Menschen hatte er erschossen, aber das hatte nur zu einem Austausch der handelnden Personen geführt, trotz des Tyrannenmords blieb die Politik dieselbe. Oder mit anderen Worten: Einer so blöd wie der andere. Und so gefährlich.
Sollte er jetzt immer so weitermachen? Den nächsten killen? Und den übernächsten? Er war kein Mörder, zumindest fühlte er sich nicht so, denn er hatte der Welt etwas Gutes tun wollen. Es war sinnlos, nichts ließ sich wirklich ändern, nicht das Verhalten seiner Frau, nicht die große Politik, nichts.
Er mixte sich einen großen, allerletzten Macallan Fine and Rare Highland Whisky von 1940, dank der Fußballwetten für knapp 50.000 Euro erstanden und leerte das Glas mitsamt eines Röhrchens Schlaftabletten. Dann wankte er ins Kämmerchen, verschloss die Tür, legte den Schlüssel neben sich auf den Boden, ließ sich auf dem Feldbett nieder und schlief ein.


 

 

 



© Michael Eisenkopf, April 2025     

 

 

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